|
Chorea Huntington
Die Chorea Huntington ist eine autosomal Dominanz (Genetik)|dominant Vererbung (Biologie)|vererbte, degenerative Nervenerkrankung, die meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr zu ersten Krankheitssymptomen führt. Männer und Frauen sind in gleicher Weise betroffen. Vererbung (Biologie)|Homozygote Mutationsträger, d.h. solche mit zwei mutierten Allel|Allelen sind nicht stärker betroffen als Vererbung (Biologie)|heterozygote. Es ist eine der häufigsten erblich bedingten Hirnstörungen mit einer Inzidenz von 1:10.000, diese schwankt jedoch von Land zu Land erheblich (Bsp. Japan: 1:100.000). Seit 1993 lässt sich das krankmachende Allel auf dem kurzen Arm des 4. Chromosom (Locus 4p16.3) nachweisen, auch beim Ungeborenen durch Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie.
Herkunft des Namens
Die Chorea Huntington (choreia, gr. = Tanz) wurde 1872 von dem New Yorker Arzt George Huntington (1850-1916) ausführlich beschrieben. Er erkannte, dass diese Besonderheit in manchen Fällen vererbt wird. Er war jedoch anfangs der Annahme, dass die Ausbreitung von Chorea H. auf Long Island (USA) beschränkt ist. Tatsächlich war sie aber bereits damals weltweit anzutreffen. Der deutsche Name ist "erblicher Veitstanz".
Organische Ursachen
Bei den betroffenen Personen verkümmern die Großhirnrinde und der Striatum|Streifenkörper im Gehirn. Er hat als Zentrale des Motoneuron#Extrapyramidales System (EPS)|Extrapyramidalen Systems einen dämpfenden Einfluss auf die motorische Aktivität. Dies erklärt die unfreiwilligen Bewegungen der Betroffenen. Ausgelöst wird dieser Schwund durch ein anomales Protein, das erstens ein Zellgift ist und zweitens die Produktion eines wichtigen Wachstumfaktors nicht mehr anregt. Man hat entdeckt, dass die Bauanleitung für die Codierung dieses Proteins, Huntingtin genannt, im kurzen Ende des Chromosoms 4 liegt. Schon bei gesunden Menschen wiederholt sich dort das Basentriplett GTC 9 bis ca. 35 Mal. Bei Kranken kommt dieses Triplett von 36 bis zu 250 Mal vor. Je häufiger sich diese Wiederholung ereignet, desto früher tritt Chorea H. auf. Die juvenile Chorea H. manifestiert sich bei über 60 GTC-Tripletts. Ein Ausbruch im vierten Lebensjahr ist beschrieben. Bei Vererbung durch den Vater erhöht sich die Zahl der GTC-Tripletts häufiger als bei Vererbung durch die weibliche Keimbahn. Die aus GTC resultierende mRNA CAG kodiert die Aminosäure Glutamin. Durch die vererbte Mutation des Huntingtin-Gens (Allel) auf dem 4. Chromosom werden Aminosäuren (und damit Proteine) fehlerhaft codiert. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine "Gain-of-Function-Mutation", d.h. die normale Funktion des Huntingtin-Proteins könnte erhalten bleiben, zusätzlich jedoch erhält es weitere - toxische - Eigenschaften. Eine hohe Expression von Huntingtin führt zu amyloidähnlichen Ablagerungen (inclusions) von mutantem Huntingtin, wahrscheinlich auch deshalb, weil die Degradation des mutierten Proteins durch das Proteasom nicht mehr richtig funktionert.
Die biologische Funktion von Huntingtin ist trotz intensiver Forschung noch nicht geklärt. Interessanterweise scheint es funktionelle Ähnlichkeiten mit Ataxin-2 zu besitzen, ein Protein, welches eine andere Polyglutaminerkrankung auslöst, nämlich Spinozerebelläre Ataxie Typ 2.
Was genau die bei CH beobachtete Neurodegenration auslöst, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. So ist auch eine Toxizität des freien mutierten Huntingtins denkbar (und teils auch nachgewiesen), so dass die Huntingtinaggregate als Schutz angesehen werden könnten.
Experimentell gelingt es, mit Kongorot (einem Farbstoff, welcher an Amyloidstrukturen bindet) diese Aggreagation zu inhibieren, wobei sich dieser Stoff auch an freies mutiertes Huntingtin anheftet und so auch dessen Toxizität verringern kann. Neue kausale Therapieformen sind auf dieser Grundlage endlich im Bereich des Möglichen, wenn auch noch Jahre entfernt.
Huntingtin wird in allen kernhaltigen Körperzellen exprimiert, eine Toxizität ist jedoch nur in den beschriebenen Arealen nachweisbar. Auch dieser Umstand ist derzeit nur unbefriedigend erklärbar.
Psychische Beschwerden
Psyche|Psychische Beschwerden gehen den Neurologie|neurologischen Auswirkungen häufig und oft viele Jahre voraus. Zu den ersten Erscheinungen der psychischen Veränderung gehören meist Störungen des Affektes und des Antriebes. Es können ein unbedachtes und impulsives Verhalten sowie eine Enthemmung in zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten. Aufgrund der mangelhaften Kontrolle über die Muskulatur (z.B. des Gesichtes mit Grimassieren) kann der falsche Eindruck eines bereits fortgeschrittenen Persönlichkeitsverlustes entstehen, was bei den Patienten Resignation und Depressionen hervorruft. Depressive Verstimmungen sind das häufigste psychiatrische Symptom und führen besonders in der Frühphase der Erkrankung zu suizidalem Verhalten. Früh treten auch Störungen der visuellen Informationsverarbeitung auf, was z.B. dazu führt, dass die Kranken insbesondere kritische Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen - wie z.B. Verärgerung - nicht richtig wahrnehmen und so darauf nicht angemessen reagieren können. Im Frühstadium werden leichte Beeinträchtigungen der Intelligenz|intellektuellen Fähigkeiten sowie Gedächtnisstörungen oft übersehen. Im Spätstadium der Erkrankung entwickeln die Patienten eine Demenz, d.h. es ist zum Verlust kognitive Behinderung|kognitiver Fähigkeiten gekommen. So finden sich Störungen der Merkfähigkeit, damit im Zusammenhang stehend eine Desorientierung und eine Sprache|Sprachverarmung. Einige Patienten entwickeln Wahnvorstellungen, die dazu führen, dass sie als schizophrene Patienten in psychiatrischen Kliniken behandelt werden.
Neurologie|Neurologische Auswirkungen
Die motorischen Störungen beginnen mit einer Bradykinese, also einer Verlangsamung der Bewegungsanläufe, die sich auch bei den Augenbewegungen zeigt. Die Chorea beginnt meist mit einer zunächst kaum bemerkbaren Bewegungsunruhe der Arme und Beine, des Gesichtes, später des Kopfes sowie des Rumpfes. Diese Unruhe kann sich zu heftigen choreatischen Hyperkinesien steigern. Das sind plötzlich einsetzende, unwillkürliche Bewegungen verschiedener Muskeln, wodurch die Willkürbewegungen unterbrochen werden. Betroffene versuchen zunächst, die choreatischen Bewegungen zu verbergen, in dem sie diese in willkürliche Bewegungsabläufe einbauen, z.B. streichen sich nach einer einschießenden Beugebewegung des Armes über das Haar. Zunehmend geraten die Muskelbewegungen aber außer Kontrolle. Beim Vollbild der Erkrankung kommt es zum plötzlichen Grimassieren und zu schleudernden Bewegungen von Armen und Beinen. Sprechen und Schlucken fallen zunehmend schwer (Dysarthrophonie und Dysphagie). Die Bewegungsunruhe verstärkt sich unter seelischer und körperlicher Belastung. Obwohl die unkontrollierten Bewegungen im Schlaf aufhören, nehmen sie bei Müdigkeit|Ermüdung eher zu. Die anfangs choreatischen Hyperkinesien wandeln sich mit zunehmenden Krankheitsverlauf in Dystonien, wobei durch Erhöhung der Muskelspannung (Muskeltonus) die Gliedmaßen minuten- bis stundenlang in einer manchmal schmerzhaften Fehlstellung verharren. An Stelle des Grimassierens tritt dann der Mutismus auf, d.h. der Patient ist nicht mehr in der Lage, durch Mimik, Gestik und Sprache zu reagieren. Das Schlucken fällt den Patienten immer schwerer und kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Die Chorea Huntington nimmt einen über 15 bis 20 Jahre dauernden Verlauf. Sie ist zur Zeit (2005) symptomatisch behandelbar, wodurch aber die Ursache nicht therapiert wird. Das Voranschreiten der Krankheit kann durch zu hohen Stress beschleunigt werden, umgekehrt haben günstige Lebenumstände mit einer leidensgerechten Aktivierung der Betroffenen einen günstigen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung. Ein Auftreten bei jüngeren Patienten geht meist mit einem schwereren und schnelleren Verlauf einher. Die Krankheit ist nach wie vor nicht heilbar und sie endet bei frühem Beginn mit dem vorzeitigen Tod des betroffenen Menschen.
Therapie
Neuroprotektive Therapie
Ziel der Therapieforschung bei der HK ist es, eine Behandlung zu finden, die den Ausbruch der Erkrankung bei Risikopersonen verhindert (prophylaktische Neuroprotektion) und die Krankheit bei Patienten stoppt oder sogar reversibel macht (therapeutische Neuroprotektion), wobei es bei der transgenen Drosophila gelungen ist, mit dem Histondeazetylase-Inhibitor Suberoylanilidehydrox¬aminsäure (SAHA) beides zu erreichen STEFFAN et al. (2001). Auch die schon lange als Anticonvulsivum im Einsatz befindliche Valproinsäure hemmt die Histondeazetylase (PHIEL et al., 2001).
Prophylaktisch wirksam war im Tierversuch die Hemmung der Caspase 1 und 3 durch Minocyclin (CHEN et al., 2000), Hemmung der Aggregation durch Hitzeschock-Proteine (KAZEMI-ESFARJANI et al., 2000) oder ein syntehtisches bivalentes Peptid (KAZANTSEV et al., 2002) bzw. der Transglutaminasen durch Cystamin (KARPUJ et al., 2002) letzteres war auch bei bereits erkrankten Mäusen effektiv.
Therapeutische Neuroprotektion
Wie man am Beispiel der Behandlung erkrankter transgener Tiere sieht, scheint auch die Behandlung bereits betroffener Patienten nicht hoffnungslos zu sein. Wenn es gelänge, die Bildung und die Dysfunktion des aberranten Proteins zu verhindern, wären eventuell sogar deutliche Therapieerfolge zu erwarten. Diese Schlussfolgerung lässt zumindest ein weiteres Tiermodell zu, bei dem man das Transgen induzierbar an- und abschalten kann (YAMAMOTO et al., 2000). Dabei konnte gezeigt werden, dass bei Tieren, die zunächst deutliche Symptome zeigten, der Phänotyp nach Abschalten des Transgens reversibel war und auch die nukleären Einschlusskörperchen verschwanden.
Beeinflussung des Gehirnstoffwechsels
Ausgehend von der Vorstellung, dass in den Nervenzellen die Atmungskette gestört ist und dass das die Nervenzellen erregende Glutamat aus den Kortexneuronen eine Teilgruppe der Striatumzellen über NMDA-Rezeptoren überstimuliert und ein erhöhter Kalziumionen-Einstrom in die Nervenzellen zur Entgleisung des Zellstoffwechsels führt, bieten sich jetzt mehrere medikamentöse Strategien an (s. dazu Übersichtsarbeiten von ALEXI et al., 2000; HERSCH & ROSAS, 2001, MCMURRAY, 2001; HUGHES & OLSON, 2001).
1. Reduzierung der Glutamat-Freisetzung, z.B. durch Lamotrigin: Schutzeffekt bisher nicht nachgewiesen (KREMER et al., 1999).
2. Blockade der Glutamat-Rezeptoren, z.B. durch Memantine: positive Effekte bei einem freien Heilversuch mit 2x 10 mg an 40 Huntington-Kranken (GERLACH et al., unpublizierte Daten),
Riluzol: gute Verträglichkeit und Chorea-dämpfender Effekt sind beschrieben (s. u.; ROSAS et al.,. 1999; SEPPI et al., 2001),
Remacemide: ohne Effekt (HD STUDY GROUP, 2001)
Ketamin: zu stark sedierend (MURMAN et al., 1997).
3. Blockade des Kalzium-Einstroms, z.B. Nimodipin: noch keine Daten.
4. Schutz der Mitochondrien und Neuronegegen oxidativen Stress: positive Effekte durch Ubichinon (Co-Enzym Q10), Kreatin, Dichloroazetat, Vitamin E in Kombination mit Vitamin C und Provitamin A, Äthyl-Eicosapentaensäure (Ethyl-EPA), ?-Liponsäure, essentielle Fettsäuren, Tauroursodeoxycholsäure und Nervenwachstumstoffe experimentell und z.T. bei Patienten nachgewiesen (ANDREASSEN et al., 2001a+b, 2002; BEAL, 1999; CARO & CARO, 1978; CHARIOT et al., 1999; CLIFFORD et al., 2002; FEIGIN et al., 1996; FERRANTE et al., 2000+2002, HD STUDY GROUP, 2001, JENKINS et al., 1996; KEENE et al., 2001+2002; KOROSHETZ et al., 1997; MATTHEWS et al., 1998; PEYSER et al., 1995; PURI et al., 2002); bei Idebenon Schutzeffekt bisher nicht nachgewiesen (RANEN et al., 1996). ; über Erythropoetin, Selen und Glutathion liegen noch keine Daten vor.
Es empfiehlt sich ein Therapieversuch mit 200 mg Vitamin E, 1 g Vitamin C und 10 mg Beta-Carotin pro Tag. Auch empfohlen wird Ubichinon (Co-Enzym Q10), 2x 50 mg, wobei wegen der besseren Resorption und Bioverfügbarkeit die flüssige Form (Sanomit) vorziehen ist, und 2x 2 g Kreatin an 6 Tagen pro Woche. Auch ein Behandlungsversuch mit 3x 360 mg Ethyl-EPA, essentiellen Fettsäuren und ?-Liponsäure scheint aussichtsreich und nebenwirkungsarm.
Neben diesen natürlichen Substanzen ist die prophylaktische Therapie der Huntington-Kranken mit Valproat und Memantine in niedriger Dosierung aussichtsreich und im Rahmen eines freien Heilversuches möglich.
Zur Bildung von freien Radikalen tragen auch Stress und das Rauchen bei, so daß Huntington-Kranken eine gesunde Lebensweise ohne zuviel Stress, Nikotin und Alkohol empfohlen werden muß, da Alkohol die Chorea verstärkt.
Neben all diesen biochemischen Versuchen zur Neuroprotektion war ein Versuch besonders aufschlussreich: wurden transgene Mäuse einer stimulierenden Umgebung ausgesetzt, entwickelten diese Tiere neurologische Auffälligkeiten deutlich später als die Kontrolltiere der gleichen Linie und hatten nach 22 Wochen ein um 13 % höheres ?peristriatales? Hirnvolumen (VAN DELLEN et al., 2000). Ähnlich positive Einflüsse fanden CARTER et al. (2000) und HOCKLY et al., (2002).
Symptomorientierte Behandlung des M. Huntington
Die Behandlung des M. Huntington muss immer biologisch-psychologisch-sozialer Natur sein, den Patienten in seiner Gesamtheit sehen und die Familie miteinbeziehen. Ohne Stärkung und Entlastung der Patienten und Angehörigen bleiben moderne Therapieansätze pharmakologischer (Radikalenfänger, NMDA- und Ca-Blocker, Membran- und Mitochondrienschutz, Genblockade) sowie übender Art (Physio- und Ergotherapie, Logopädie, neuropsychologische Therapie etc.) wirkungslos.
Die Behandlung der Chorea
Der behandelnde Arzt sollte sich zunächst fragen, ob überhaupt eine medikamentöse Dämpfung der Chorea erforderlich ist. Viele Choreatiker können relativ lange ohne Medikamente ihren alltäglichen Verpflichtungen nachkommen, ohne nennenswert durch die Bewegungsunruhe beeinträchtigt zu sein.
Die wirksamste Pharmakotherapie der Chorea ist die Blockade der D2-Rezeptoren. Präparat der ersten Wahl mit guter Wirksamkeit und Verträglichkeit ist Tiaprid (Dose & Lange, 2000). Bei einigen Patienten genügt eine Dosis von 3x 100 mg, gelegentlich werden aber auch Dosierungen von 4x 300 mg notwendig sein, um die Bewegungsunruhe auf ein erwünschtes Maß zu reduzieren. Als störende Nebenwirkung können sich Müdigkeit und Antriebsmangel einstellen bzw. verstärken. Dieser sedierende Effekt ist bei manchen Patienten mit Affektlabilität und Reizbarkeit durchaus erwünscht und hilfreich.
Tetrabenazin es ebenfalls gut wirksam (Sattes, 1966; ONDO et al., 2002) zählt in England zu den Mitteln der ersten Wahl, wird in der Regel ebenfalls gut vertragen in einem Dosisbereich von 3x 25 bis 3x 75 mg pro Tag. Als ernste Nebenwirkung ist die Entwicklung einer Depression im Auge zu behalten, insbesondere dann, wenn der Patient von vornherein zu depressiven Verstimmungen neigt. Nach neuesten Erkenntnissen könnte Tetrabenazin auch eine protektive Wirkung entfalten.
Riluzol, dessen neuroprotektive Wirkung derzeit in einer europäischen Multi-Center-Studie untersucht wird, wird von Huntington-Patienten gut vertragen (ROSAS et al., 1999) und zeigt initial eine Chorea-dämpfende Wirkung, die nach 12 Monaten nicht mehr nachweisbar war (SEPPI et al., 2001).
Die Behandlung der Brady-/Hypokinese
Positive Effekte sahen wir bei unseren Patienten mit ausgeprägter Bradykinese wie z.B. der Westphal-Variante durch Memantine in niedriger Dosis (2x 10 mg).
Unverzichtbar ist die physiotherapeutische Behandlung.
Die Behandlung von Unruhe und Angst
Als Zusatzmedikation zu den o. g. Medikamenten hat sich der Einsatz von Benzodiazepinen bewährt, insbesondere wenn der Patient über innere Unruhe und Angst klagt. Diese Medikamente dürfen bei Huntington-Kranken auch über längere Zeit gegeben werden; mit der Entwicklung einer Sucht mit Dosissteigerung und Abhängigkeit ist nicht zu rechnen. Um Entzugssymptome nicht zu provozieren, sollten Benzodiazepine ausschleichend abgesetzt werden.
Sehr hilfreich sind eine verständnisvolle, stützende und schützende Umgebung und ein strukturierter Tagesablauf.
Die Behandlung der Schlafstörungen
Schlafstörungen sind bei Huntington-Patienten häufig zu beobachten. Ein gestörter Tag/Nacht-Rhythmus zwingt zum therapeutischen Handeln. Hier hat sich der Einsatz von Benzodiazepinen bewährt. Im Allgemeinen sollten kurzwirksame Benzodiazepine zum Einsatz kommen, bei hartnäckigen Durchschlafstörungen hat sich Flunitrazepam bewährt. Falls Benzodiazepine schon als Tagesarznei zum Einsatz kommen, sollten sie nicht auch als Nachtarznei gegeben werden. Dann sollten Imidazopyridine, z.B. Zolpidem, verordnet werden. Als Alternative können wir auch Chloraldurat und Paraldehyd empfehlen. Ein festes "Einschlaf-Ritual" ist hilfreich.
Die Behandlung der Depression
Finden sich beim Patienten deutliche Hinweise auf eine Depression, sollte er unbedingt antidepressiv behandelt werden. Dabei ist aber vor dem Einsatz der klassischen tri- und tetrazyklischen Antidepressiva zu warnen, da diese alle einen mehr oder weniger starken anticholinergen und katecholaminergen Wirkungsmechanismus haben. Da bei Chorea im Gehirn ein Mangel an Azetylcholin und ein funktioneller Überschuß an Dopamin im Bereich des Striatums nachgewiesen werden konnten, ist es gut verständlich, daß diese klassischen Antidepressiva die Chorea verstärken (WHITTIER et al., 1961) bzw. bei Risikopersonen auslösen können. Auch können Wahnvorstellungen und Halluzinationen ausgelöst werden. Bei den von uns betreuten depressiven Huntington-Patienten hat sich der Einsatz des D2-Rezeptoren blockierenden Sulpirid bei Tagesdosen zwischen 400 und 600 mg bewährt, auch wenn es sich um Depressionen mit Suizidalität gehandelt hat. Gleichzeitig wird durch Sulpirid die Chorea gemildert. Sollte sich unter Sulpirid-Therapie die Depression nach 4 - 8 Wochen nicht gebessert haben, sollte man ein modernes Antidepressivum mit serotonerger Wirkung einsetzen. Erst wenn auch dadurch keine Verbesserung der Stimmung zu erzielen ist, kann man auf klassische Antidepressiva unter der gleichzeitigen Gabe eines Neuroleptikums, z. B. Thioridazin in einer Dosierung von 3x 50 mg oder mehr pro Tag zurückgreifen.
Die Behandlung von Affektlabilität, Aggressivität und Wahnvorstellungen
Zeigen sich bei Patienten erhebliche Stimmungsschwankungen mit der Neigung zu aggressiven Ausbrüchen oder ist es zu einer Entwicklung von Wahnvorstellungen und -wahrnehmungen etc. gekommen, sollten die Patienten mit Neuroleptika behandelt werden in einer ausreichenden Dosierung und über einen ausreichend langen Zeitraum. Als Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Depression, Apathie, Verlangsamung und vegetative Störungen möglich. Auch können die lästigen motorischen Nebenwirkungen in Form von Parkinsonismus oder Spätdyskinesien auftreten. Eine ernste Komplikation der Neurolepsie ist das sogn. maligne neuroleptische Syndrom, das mit hohem Fieber einhergeht und zu Nierenversagen mit tödlichem Ausgang führen kann. Solche Patienten müssen sofort in eine Klinik eingewiesen werden.
Aus diesen Gründen ziehen wir den Einsatz atypischer Neuroleptika den üblichen Neuroleptika vor, z.B. Clozapin, das bei Huntington-Psychosen gut wirksam und gut verträglich ist, wobei meist niedrige Dosierungen von 50 - 100 mg ausreichen. Hier sind regelmäßige Kontrollen des Blutbildes Pflicht, um einer Agranulozytose rechtzeitig begegnen zu können. Dieses Problem umgeht man mit dem neuen atypischen Neuroleptikum Amisulprid, das eine dem Clazapin vergleichbare Wirkung hat. Nach bisherigem Eindruck ist es ebenso gut verträglich wie die anderen bewährten Benzamide Tiaprid und Sulpirid.
Über Buspiron liegen mehrere positive Case-Reports zur Behandlung von Aggressivität vor (FINDLING, 1993; BYRNE et al., 1994; BHANDARY & MASAND, 1997). Auch Sertraline kann bei Aggressivität hilfreich sein (RANEN et al., 1996)
Alle diese o. g. Medikamente sollten nur von einem Nervenarzt verordnet werden, der den Patienten regelmäßig sieht. Die Medikamente können auch einmal einen ungünstigen Einfluß auf die Symptomatik haben, insbesondere können sich Schlucken, Sprechen und Gehen verschlechtern. In Absprache mit dem behandelnden Arzt sollte dann eine medikamentöse Neueinstellung erfolgen.
Die übende und aktivierende Behandlung des Kranken
Neben der medikamentösen Therapie hat sich als gleichbedeutend wichtig eine umfassende physio-, ergo-, sozio- und psychotherapeutische sowie logopädische Behandlung der Patienten erwiesen. SULLIVAN et al., 2001
Die Patienten sollten zur regelmäßigen Physiotherapie (Krankengymnastik) angehalten werden, wobei ein speziell auf die Bedürfnisse des Patienten abgestelltes Übungsprogramm mit dem Physiotherapeuten erarbeitet werden sollte, das dann später vom Patienten und seinen Angehörigen gemeinsam weiter trainiert werden kann. Bäder und Massagen haben oft einen günstigen Einfluß auf die Gesamtsituation des Patienten.
Sprechschwierigkeiten lassen sich am ehesten durch ein gezieltes logopädisches Training beeinflussen. Die Behandlung soll schon bei leichten Sprechstörungen erfolgen. Durch sie lassen sich auch Schluckstörungen bessern. Hier hat sich die fazio-orale-Trakt-Therapie (FOTT) bewährt. Da erfahrungsgemäß lange Wartezeiten für eine logopädische Behandlung in Kauf genommen werden müssen, sollte man sich frühzeitig um eine solche Behandlung bemühen.
Wichtig ist auch eine sinnvolle Beschäftigung der Patienten während des Tages; sie sollten daher möglichst lange in ihrem bisherigen Arbeitsumfeld belassen werden und nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß einer sinnvollen, Freude bereitenden Beschäftigung zugeführt werden. Hier kann die Ergotherapie wichtige Hilfeleisten, sei es durch den gezielten Einsatz von Hilfsmitteln am Arbeitsplatz oder zuhause, sei es durch gezieltes Training manueller Fähigkeiten oder die Anleitung zu neuen z.B. kreativen Tätigkeiten.
Ein regelmäßiges Hirnleistungstraining hat sich bei der Huntington-Krankheit ebenfalls bewährt. Es gibt diverse Materialien, um Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration und geistige Flexibilität zu trainieren. Das Programm sollte mit einem Ergotherapeuten oder Neuropsychologen zusammengestellt werden. Besonders wirksam läßt sich das Gehirn mittels Computer-gestützter Verfahren trainieren (LANGE, 1993). Sehr wirksam ist die Vermittlung kompensatorischer Strategien, z.B. Gebrauch eines Organizers oder Notizbuches, und die Anpassung des Umfeldes an den veränderten Zustand des Patienten.
Auch sollte der Patient angehalten werden, eine Entspannungstechnik wie z.B. das autogene Training oder die progressive Muskelrelaxation zu erlernen. Diese Empfehlung gilt in gleichem Maße auch für die oft sehr gestreßten Lebenspartner der Erkrankten. In späteren Erkrankungsstadien kann bei Huntington-Kranken noch das Atem-Feedback zum Einsatz kommen.
Patienten sollten außerdem in regelmäßigem Turnus an einer Rehabilitationsmaßnahme in einer neurologisch ausgerichteten Rehabilitationsklinik teilnehmen. Dies kann auch zur wichtigen Entlastung der betreuenden Angehörigen beitragen. Sehr bewährt haben sich in letzter Zeit Reha-Maßnahmen in neurologischen Tageskliniken, da hier die Therapie ganz individuell auf Erhalt des Arbeitsplatzes und/oder die Probleme zuhause abgestellt werden kann. Oft sind Huntington-Kranke auch zu keiner anderen Maßnahme zu bewegen.
Ernährung
Auch die richtige Ernährung des Chorea-Patienten ist wichtig. Huntington-Patienten dürfen nicht an Gewicht verlieren. Ein gutes Körpergewicht verbessert die Prognose (MYERS et al., 1991), Gewichtsverlust bewirkt oft eine Verschlechterung des Befundes. Die Patienten haben einen erhöhten Grundumsatz (PRATLEY et al., 2000). An erster Stelle steht eine ausreichende Kalorienzufuhr. Besonders bei untergewichtigen Patienten sind daher manchmal 5 bis 6 kohlehydratreiche, hochkalorische Mahlzeiten pro Tag (bis zu 4000 kCal pro Tag) notwendig, um das Gewicht zu normalisieren. Das Körpergewicht sollte wöchentlich kontrolliert werden und nicht unter dem Normalgewicht liegen. Ein leichtes Übergewicht (Faustregel: Körperlänge ? 100 = empfohlenes Körpergewicht) wirkt sich bei vielen Patienten nicht nur günstig auf die Chorea aus, sondern auch auf die Prognose (s.o).
Die Hauptmahlzeiten sollten im Sinne einer Vollwertkost ausgewogen, kohlehydrat-, mineral-, vitamin- und ballaststoffreich sein. Dazu empfiehlt es sich, süße Zwischenmahlzeiten zu geben, z.B. Sahnejoghurt als zweites Frühstück und nachmittags ein Stück Kuchen oder Gebäck. Zwei Drittel aller Huntington-Patienten haben ein großes Bedürfnis nach Süßigkeiten, dem man großzügig stattgeben sollte. Es hat sich gezeigt, daß ein höheres Zuckerangebot bei Chorea-Kranken den Zuckereinstrom ins Gehirn verbessert.
Die Nahrungsmittel sollten so gewählt werden, daß der Patient sie gerne ißt und sie ohne Schwierigkeiten schlucken kann. Bei Schluckschwierigkeiten haben sich Speisen mit breiiger und Getränke mit dickflüssiger Konsistenz bewährt. Krümelige und zu dünnflüssige Nahrungsmittel sollten vermieden werden. Bei Schluckstörungen ist fazio-orale Trakt-Therapie (s.o.) oft segensreich, sie sollte frühzeitig zum Einsatz kommen. Nicht zu lange sollte bei drohender Kachexie mit dem Anlegen einer perkutanen Magensonde gewartet werden.
Der Patient sollte auch mit den Genußgiften Nikotin und Koffein äußerst sparsam umgehen. Kaffee darf keinesfalls gleichzeitig zur Medikamenteneinnahme getrunken werden, da er die Wirkung der Medikamente vermindern kann. Auf Alkohol sollte weitgehend verzichtet werden, da er die Symptomatik verstärkt.
Die psychologische Behandlung
In die Therapieüberlegungen muß auch die gesamte Lebenssituation des Patienten miteinbezogen werden. Probleme im Familien- oder Arbeitsbereich müssen rechtzeitig erkannt und bearbeitet werden. Hier ist stützende Psychotherapie für die gesamte Familie angezeigt und oft der Einsatz eines Sozialarbeiters notwendig.
Das wichtigste psychotherapeutische Moment der Behandlung ist die Akzeptanz und Bewältigung der Erkrankung durch den Patienten und seine Familie. Dies gelingt umso besser, je früher die richtige Diagnose gestellt wird und die Probleme des Erkrankten und der Familie noch minimal sind. Als wesentlichstes Moment für eine positive Bewältigung der Problematik haben sich ein engagierter Einsatz des behandelnden Arztes für den Patienten und seine Familie sowie der Kontakt zur Selbsthilfeorganisation Deutsche Huntington-Hilfe, Duisburg, Telefon 0203-22915, bewährt.
Übersicht der häufigsten Krankheiten:
|