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Querschnittssyndrom
Unter dem spinalen Querschnittssyndrom (syn.: Querschnittlähmung, Querschnittläsion) wird eine Kombination von Symptomen verstanden, die bei Unterbrechung der spinalen Nervenleitung auftritt. Die Ursache können Verletzungen des Rückenmarks (z. B. bei Wirbelsäulenbrüchen), aber auch Tumoren und andere spezielle Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose) sein.
Zum Symptomkomplex des Querschnittssyndroms gehören:
- Lähmungen,
- Vegetative Entgleisungen (u. a. Kreislaufstörungen),
- Spastiken, Hyperreflexibilität.
Ätiologie und Pathogenese
Es wird geschätzt, dass in Deutschland jährlich 1600 Menschen eine neue Querschnittläsion erleiden. Etwa 2/3 davon sind Männer. Da in Deutschland erst seit den 70er Jahren flächendeckend rehabilitiert wird, folgt daraus, dass zur Zeit lediglich etwa 20.000 Deutsche mit einer solchen Verletzung leben müssen. Das sind wesentlich weniger als z. B. 100.000 deutsche Multiple Sklerose-Kranke.
Die häufigste Ursache (ca. 70 %) sind Unfälle (spinales Trauma) mit Frakturen der Wirbelsäule, insbesondere der Halswirbelsäule. Sie werden in:
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lineare Frakturen, d. h. Scherungen und Quetschungen des Rückenmarks durch Verschiebung von Wirbelkörpern in der Längsachse (Longitudinalachse) der Wirbelsäule,
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Kompressionsfrakturen mit resultierender Quetschung des Rückenmarks,
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Berstungs- oder Trümmerfrakturen mit Verlagerung von Trümmersegmenten in den Rückenmarkskanal unterteilt.
Bei den linearen Frakturen spielt die Dislokation (Verschiebung) von Wirbelkörpern in der Längsachse der knöchernen Wirbelsäule die entscheidende Rolle. Das Rückenmark wird durch die Stufenbildung der Wirbelkörper geschädigt. Es sind alle Ausprägungen der Rückenmarksschädigung denkbar.
Die Kompressionsfrakturen sind häufig Folge eines Kopfsprunges in zu flaches Wasser. Dem Unfallmechanismus liegt eine zu starke Beugung (Flexion) von Wirbelsäulenabschnitten zugrunde.
Trümmerfrakturen führen fast immer zu schweren Neurologie|neurologischen Störungen.
Außer den rein mechanischen Schädigungswirkungen spielen noch einige biologische Vorgänge eine Rolle in der Ausbildung des Schadens und der mangelhaften Regeneration des gestörten neuronalen Gewebes 3:
- Apoptose
- Entzündung
- Die Regeneration von Neuronen verhindernde Faktoren
- Narbenbildung
''Apoptose'': Die Stimulation des CD95-Rezeptors von Oligodendrozyten und Neuronen durch Fas oder APO-1 genannte Substanzen, die im geschädigten Gebiet nachgewiesen werden können, führen zur Apoptose (kontrollierter intern gesteuerter Zelluntergang) dieser Zellpopulationen. Der neurologische Schaden wird dadurch größer. Eine Therapie ist derzeit in der Forschung und besteht wahrscheinlich in der Gabe von CD95-Rezeptor-blockierenden Substanzen.
''Entzündung'': Gegen die Wirkung der Entzündung im geschädigten Gewebe wird Methylprednisolon eingesetzt. Die Entzündung ist Ausdruck destruktiver Immunvorgänge, die lokale als auch systemische Konsequenzen haben können.
''Die Regeneration von Neuronen verhindernde Faktoren'': Nervenzellen neigen an sich nicht dazu, sich nach Schädigung von allein wieder zu regenerieren. Es sind derzeitig Therapien in der Erforschung, die auf der Hemmung dieses physiologischen Phänomens basieren.
''Narbenbildung'': Die Narbenbildung versperrt durch Bindegewebssepten präformierte Nervenwege. Dadurch wird ein geordnetes und funktionsersetzendes Wiederaussprossen von Nerven verhindert.
Systematik
Ausprägung
Die Lähmung der aktiven Beweglichkeit von Gliedmaßen kann in Abhängigkeit vom:
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Schädigungsausmaß des Rückenmarks von unterschiedlicher Ausprägung sein. Anhand der Schwere dieses Leitsymptoms unterscheidet man in klassischem Sinne die ''Plegie (komplette motorische Lähmung unterhalb der Rückenmarkläsion) von der Parese'' (inkomplettes motorisches Lähmungsbild). Im Verlauf der Erkrankung kann eine vorerst schlaffe Lähmung in eine spastische Lähmung übergehen.
Weiterhin führen Rückenmarksschädigungen aufgrund anderer umfangreicher Funktionen zu:
- Störungen der ''motorischen Reflexe'' mit Ausfall von Eigen- und Fremdreflexen 2
- Ausfall der Kontrolle von ''Mastdarm und Blase''
- Ausfall der Sensibilität (Gefühl, Tastempfindung)
Lokalisation
Im Sinne des Schädigungsortes wird die ''Paraplegie oder Paraparese'' (Lähmung der unteren Extremitäten bei Schädigung tieferer Abschnitte des Rückenmarks, ca. 60 % der Fälle) von der ''Tetraplegie oder Tetraparese'' (Lähmung aller vier Extremitäten bei Schädigung des Halsmarks, ca. 40% der Fälle) unterschieden.
Die Läsionshöhe wird durch das letzte noch intakte Rückenmarkssegment definiert. So bezeichnet die Diagnose "Querschnitt unterhalb von C5", dass das Segment C5 noch intakt ist 2.
Der Einschätzung der Läsionshöhe nach Körperfunktionen dienen die Untersuchung von Kennmuskeln und die der ''Dermatome''.
Die Unmöglichkeit der aktiven Armbeugung deutet z. B. auf eine Läsion bei C5 hin, da der Armbeugemuskel (''M. biceps'') nicht mehr angesprochen werden kann. Die Läsionshöhe wäre in diesem Fall also "unterhalb von C4".
Die Schädigung ab und oberhalb von C4 führt zu einem Ausfall des ''Nervus phrenicus''. Dieser Nerv sorgt normalerweise für die Funktion des Zwerchfells. Somit führt der Ausfall des ''N. phrenicus'' zum Ausfall der Zwerchfellatmung. Bei dieser Schädigung sind aber auch alle anderen Nerven gelähmt, die unterhalb von C4 liegen, also auch die sog. Intercostalnerven, die die Zwischenrippenmuskulatur (Intercostalmuskulatur) versorgen. Ein derartiges Trauma ist akut lebensbedrohlich, da die aktive Atmung völlig unmöglich wird. Es bedarf als sofortige lebenserhaltende Therapie der künstlichen Beatmung.
Ein ''Dermatom'' ist ein Hautareal, das das Versorgungsgebiet eines bestimmten Nerven repräsentiert. Die in der Abbildung gezeigten Dermatome unterscheiden sich in den ihrer Spinalnervenversorgung, sie beschreiben immer ein bestimmtes Rückenmarkssegment. Ihre Untersuchung eignet sich zur Einschätzung der Läsionshöhe bei Rückenmarksschädigungen. Die Dermatome werden mittels Kältereiz, Berührung oder Nadelstichreizung untersucht. Diese drei Empfindungsqualitäten können durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen in den beeinflussten Dermatomen führen, was auf eine inkomplette Rückenmarkschädigung schließen ließe.
Zu den seltenen einseitigen inkompletten Rückenmarksschädigungen gehört das ''Brown-Sequard-Syndrom''. Es ist durch eine dissoziierte Sensibilitätsstörung gekennzeichnet und zwar durch eine Beeinträchtigung des Berührungs- und Lagesinns auf der betroffenen Seite und eine Beeinträchtigung von Temperatur- und Schmerzsinn auf der gegenüberliegenden Seite.
Verlauf
Der Verlauf hängt vom Ausmaß der Rückenmarkschädigung ab. Ein voll ausgeprägtes spinales Querschnittsyndrom mit hoher Läsion (HWS-Bereich) läuft in 3 Phasen ab:
- Hypertension
- Spinaler Schock
- Spastik und Hyperreflexie
Dabei ist der spinale Schock (akute Phase) durch Ausfall von Regulationsvorgängen gekennzeichnet. Die Gefäße im betroffenen Bereich werden weit gestellt, weil die Gefäßmuskulatur erschlafft. Bei unzureichender Kompensation durch die unbetroffenen Körperteile kann es dadurch zu Blutdruckabfall und zum Kreislaufschock kommen. Gefürchtete Folgen sind akutes Nierenversagen,Schocklunge (ARDS) usw. Diese Phase kann deshalb intensivmedizinische Behandlung nötig machen.
Im Gegensatz dazu ist die chronische Phase durch eine übersteigerte Regulation gekennzeichnet. Auf Seiten des Gefäßsystems sind Blutdruckspitzen möglich, die Willkürmuskulatur kann mit unkontrollierbaren Beugersynergien reagieren, die anfallartigen Charakter haben.
Therapie
Notfallbehandlung
Bei allen bewusstseinsgetrübten und bewusstlosen Patienten muss bei entsprechendem Unfallhergang von einer spinalen Schädigung ausgegangen werden. So ist bei 6-10 % aller Schädel-Hirn-Verletzten mit einem spinalen Notfall zu rechnen. Deshalb ist hier immer Versorgung mit einer Halskrawatte erforderlich.
Im Umkehrschluss muss bei Schädigung der Brustwirbelsäule (BWS) mit einem Thoraxtrauma und bei Verletzungen der Lendenwirbelsäule (LWS) mit einem retroperitonealen Hämatom gerechnet werden.
Zur Kreislaufunterstützung sollte vorrangig Volumen, sekundär Dobutamin appliziert werden. Bei Bewusstlosigkeit und insuffizienter Atmung muss die tracheale Intubation und Beatmung angestrebt werden.
Der Nutzen einer Behandlung mit Methylprednisolon (z. B. Urbason) ist nur geringgradig evidenzbasiert. Sie wird aber trotzdem empfohlen, wenn sie möglichst innerhalb der ersten 3 Stunden - nicht später als 8 Stunden - nach Trauma eingeleitet wird. Eine Unterlassung gilt jedoch nicht als Fehler 2.
Der Einsatz anderer Substanzen (z. B. Polyethylenglykol, Harnsäure) hat das tierexperimentelle Stadium noch nicht verlassen.
Operative und konservative Versorgung
Derzeit gibt es keine evidenzbasierte Aussage über den Nutzen und das Timing konservativer oder operativer Versorgung von Wirbelsäulenverletzungen 4.
Beide Methodengruppen müssen das Ziel verfolgen, die Funktionsausfälle des Rückenmarks und der Wirbelsäule dauerhaft möglichst rückgängig zu machen oder zumindest nicht weiter fortschreiten zu lassen. So wirken z.B. in den Wirbelsäulenkanal verlagerte Knochenfragmente auch später schädigend auf das Rückenmark. Ein anderes Beispiel sei die Vermeidung von Fehlstellungen, die zu Kompressionen des Rückenmarks und zur Gibbus-Bildung (extreme Verkrümmung der Wirbelsäule, "Buckel") führen kann. Ein Gibbus kann auch, soweit er die Brustwirbelsäule betrifft, negative Folgen für die Atmung haben.
Die konservative Therapie hat ihre Stärken darin, dass hier keinerlei Irritation des Rückenmarks durch die OP erfolgt. Sie setzt aber durch die Verwendung von Orthesen eine meist wochenlange, zumindest teilweise Immobilisation des Patienten voraus. Bekannt ist hier das Halo-Body-Jacket, mit dem die Halswirbelsäule ruhiggestellt wird. Das System ist aber sehr sperrig und behindert eine Intensivpflege im Bett stark.
Auch die operativen Möglichkeiten verfolgen die Ziele der Dekompression des Rückenmarks und der Stabilisierung der Wirbelsäule. Der Vorteil der operativen Lösungen liegt in der meist rascheren und umfassenderen Mobilisationsmöglichkeit des Patienten.
Der Dekompressions-OP liegt die Hoffnung zugrunde, dass z. B. durch Begradigung von Stufen (bei Verschiebung in der Längsachse der Wirbelsäule (s. o.)) druckbedingte Durchblutungsstörungen beseitigt werden.
Eine frühzeitig durchgeführte Stabilisierungsoperation bietet Vorteile für die intensivmedizinische Behandlung. Zum einen kann das Luftwegsmanagement durch Tracheotomie optimiert werden, zum anderen entfallen Probleme beim Lagerungswechsel in Pneumonieprophylaxe und Pflege.
Dabei werden verschiedene Unfallchirurgie|unfallchirurgische Verfahren der Osteosynthese angewandt, die zu Versteifung der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte führen.
Es wird diskutiert, dass der Erfolg derartiger Operationen am größten ist, wenn sie innerhalb von 3 Tagen nach dem Trauma erfolgen 2.
Medikamentöse Behandlung
In jüngster Zeit (2005) wurde offenbar erstmals in präklinischen Versuchen das neurotherapeutische Medikament ''Cordaneurin'' erfolgreich an akuten Rückenmarksverletzungen getestet, welches die Regeneration der Nervenzellen begünstigen soll. Erste klinische Studien werden laut Hersteller 2006 beginnen.
Rehabilitation
Die gezielte Rehabilitation von Querschnittlähmungen wurde erstmals von Sir Ludwig Guttmann in Stoke-Mandeville durchgeführt und gezielt weiter entwickelt. Guttmann erkannte, dass die Folgen einer Lähmung falsch aufgefasst und behandelt wurden. Er stellte ein Programm der lebenslangen Nachsorge "Comprehensive Care" auf.
Pflegerische Rehabilitation
Umfasst die Versorgung der Blasen- und Mastdarmlähmung, die Übernahme der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL), solange diese den Betroffenen nicht selbständig möglich sind, sowie die Verhinderung von Komplikationen und Folgeschäden, z. B. eines Wundliegens (Dekubitus) oder Kontrakturen (Versteifung von Gelenken).
Berufliche Rehabilitation
An die umfassende somatische Rehabilitation schließt sich im Allgemeinen eine berufliche Rehabilitation an, die den Betroffenen "wieder zu einem Steuerzahler machen" soll.
(Aussage von Sir Ludwig Guttmann, gerichtet an den Vater eines Betroffenen).
An der Rehabilitation, wie an der lebenslangen Nachsorge ist außerdem in nennenswertem Umfang die Physiotherapie mit Massagen, Krankengymnastik und Schwimmen, sowie die Ergotherapie mit Training der ATL, Hilfsmittelversorgung und -anpassung (z. B. Rollstuhl, Wohnungseinrichtung) beteiligt. Zu einem Team, das frische Querschnittlähmungen rehabilitiert, gehören außerdem Sozialarbeiter und Psychologen.
Internationaler Sprachgebrauch
Im englischen und französischen Sprachraum scheint es keinen Oberbegriff für Para- und Tetraplegie im Sinne von Querschnittlähmung zu geben. So existieren zwar die Übersetzungen ''transverse lesion"bzw. ''paralysie de coupe transversale", diese sind jedoch praktisch nicht gebräuchlich. Vielmehr bilden dort "paraplegia" bzw. ''paraplégie" den Oberbegriff, während "quadriplegia" bzw. "tétraplégie" eine Spezifizierung darstellen.
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