|
Neurofibromatose Typ 2
Die Neurofibromatose Typ II (NF II) ist eine erbliche Tumorerkrankung. Ihr Hauptmerkmal ist das Vorkommen von gutartigen Hirntumoren, die sich symmetrisch im Bereich beider Hör- und Gleichgewichtsnerven entwickeln. Die meisten Patienten mit dieser Erkrankung leiden auch an Veränderungen der Augen. Ursache der NF II sind Mutationen eines Gens, das vermutlich Einfluss nimmt auf Form und Wanderungsverhalten bestimmter Zelltypen. Da die NF II genetisch bedingt ist, ist eine Heilung nicht möglich. Die Behandlung besteht in der Entfernung von Tumoren im Bereich des Gehirns und Rückenmarkes, sowie operativer Eingriffe im Bereich der Augen und der betroffenen Hirnnerven.
Inzidenz, Erbgang, Epidemiologie
Die NF II ist eine erbliche Tumorerkrankung mit autosomal dominantem Erbgang. Die betroffenen Menschen entwickeln bestimmte Tumoren des Nervensystems. Die Inzidenz (Erkrankungshäufigkeit) beträgt 1:35.000. Das klinische Erscheinungsbild ist vielfältig, aber alle Menschen mit dieser Erkrankung haben Mutationen am gleichen Genort. Betroffen ist ein Gen auf dem Chromosom 22. Bei etwa der Hälfte der Patienten liegt eine Neumutation vor.
Pathogenese, Molekularbiologie und pathophysiologische Zusammenhänge
Das NF II-Gen wird Merlin oder Schwannomin genannt und liegt auf dem Chromosom 22 Bande q11-13.1. Das Schwannomin-Peptid besteht aus 595 Aminosäuren. Wenn man das Schwannomin mit anderen Eiweißen vergleicht, dann fällt die Verwandtschaft mit einer Gruppe von Eiweißen auf, die die Zellmembran mit dem sog. Zytoskelett verbinden. Mutationen im Schwannomin-Gen und das Fehlen von Schwannomin könnte dazu führen, dass die Zellwanderung beeinflusst wird, die Zellform sich ändert oder ein Verlust der sog. Zellkontakthemmung eintritt.
Pathologie
Das sogenannte Akustikusneurinom bei der Neurofibromatose Typ II ist in Wirklichkeit ein Schwannom des Nervus vestibularis (Gleichgewichtsnerv). An dem falschen Begriff wird trotz besseren Wissens in der ganzen wissenschaftlichen Literatur festgehalten. Die vestibulären Schwannome wachsen langsam am inneren Eingang (Schädelbasisseite) des Nervus Meatus acusticus internus. Sie entstehen aus der Nervenscheide des oberen Abschnittes des N. vestubularis am Übergang des zentralen zum peripheren Myelin (sog. Obersteiner-Redlich-Zone) im Bereich des Porus acusticus, 1 cm entfernt vom Hirnstamm.
Krankheitsbild
Das klinische Spektrum der Erkrankung ist breit. Mit dem Begriff klinisches Spektrum meint man das Auftreten von Symptomen, die im ursächlichen Zusammenhang mit der Erkrankung stehen.
- Hörnerv: Wie schon erwähnt findet man bei 90 % der Betroffenen bei einer Kernspintomographie des Schädels ein beidseitiges Akustikusneurinom.
- Andere Hirnnerven und Hirnhäute: Etwa 50 % der Patienten haben Tumoren im Bereich der Hirnnerven oder Meningeome.
- Rückenmark: Ebenso häufig finden sich spinale (das Rückenmark betreffende) Raumforderungen (in der Medizin bezeichnet der Begriff Raumforderung in vielen Fällen eine Gewebswucherung). Bei den Patienten mit einer NF Typ II werden die cranialen (den Schädel betreffenden) Raumforderungen fast immer symptomatisch (z.Bsp. Hörminderung). Die spinalen Raumforderungen werden aber nur in ca. 40 % der Fälle symptomatisch. Die spinalen Tumoren werden in zwei Gruppen unterteilt. Einmal findet man intramedulläre Raumforderungen. Damit sind Tumore gemeint, die sich in der Gewebssubstanz des Rückenmarkes finden. Hier findet man vor allem Low Grade Astrozytome und Ependymome. Zum anderen finden sich extramedulläre Raumforderungen. Hiermit meint man Tumoren oder Gewebsveränderungen, die sich im Rückenmarkskanal, aber außerhalb der Rückenmarkssubstanz befinden. Der extramedulläre Raum ist der Spalt zwischen der Oberfläche der Rückenmarkssäule und der knöchernen Wand des Rückemarkskanales innerhalb der Wirbelsäule. In diesen Fällen treten vornehmlich Schwannome und Meningeome auf.
- Haut: Bei Kindern kann das Auftreten von Neurofibromen ein Hinweis sein für das Vorliegen einer Neurofibromatose Typ II.
- Augen: Systematische Untersuchungen von Patienten mit einer NF Typ II ergaben, dass über 90 % der Erkrankten Augenveränderungen haben. Die weitaus häufigste Augenveränderung bei der NF II ist das sogenannte juvenile (im Jugendalter auftretende) subcapsuläre Grauer Katarakt (eine Form der Linsentrübung).
Die klinischen Symptome (Beschwerden, die die Patienten selbst bemerken und dem Arzt berichten) einer Läsion des Nervus vestibulocochlearis (Hör- und Gleichgewichtsnerv) durch eine Raumforderung im Kleinhirnbrückenwinkel sind folgende: Hörminderung (98%), Tinnitus (Ohrgeräusch) (70%), Gleichgewichtsstörung (67%), cerebelläre Ataxie (Gangunsicherheit), Kopfschmerzen (32%) und Taubheit (32%) und Lähmung (10%) im Bereich des Gesichtsnerven.
Die klinischen Zeichen (Veränderungen, die die Patienten selbst nicht bemerken, die aber ein Arzt bei einer körperlichen Untersuchung feststellen kann) einer Läsion des Nervus vestibulocochlearis (Hör- und Gleichgewichtsnerv) durch eine Raumforderung im Kleinhirnbrückenwinkel sind folgende: Störung des Cornealreflexes (33%), Nystagmus (26%), Hypästhesie im Bereich des N. facialis (26%).
Bei technischen Untersuchungen ergeben sich folgende Befunde:
Neben den typischen Befunden der Bildgebung (Erweiterung des Porus akustikus internus (Öffnung des Gehörganges) im Knochenfenster des nativ-CCT, Kontrastmittelaufnahme der Tumoren) findet man eine Eiweißvermehrung im Liquor und pathologische Befunde bei den akustisch evozierten Potenzialen. Nystagmus läßt sich auch mit Hilfe einer Elektronystagmographie mit calorischer Stimulation charakterisieren.
Krankheitsverlauf
Charakteristisch für den Verlauf der Erkrankung ist die Tatsache, dass die Akustikusneurinome bei Patienten mit einer NF Typ II schon im jungen Erwachsenenalter auftreten, während bei den sporadischen Formen (damit meint man das Auftreten des Akustikusneurinoms unabhängig vom Vorliegen einer erblichen Tumorerkrankung) das Erkrankungsalter viel höher liegt.
Bei der NF II werden zwei Verlaufsformen beschrieben:
Der sogenannte Wishart-Phänotyp ist gekennzeichnet durch das Auftreten von multiplen cerebralen und spinalen Raumforderungen vor dem 20. Lebensjahr mit rascher Tumorprogression. Der Feiling-Gardner-Phänotyp ist gekennzeichnet durch einen Krankheitsbeginn nach dem 20. Lebensjahr mit singulären zentralen Tumoren und langsamer Tumorprogression.
Genotyp-Phänotyp-Korrelation
Viele Patienten mit einer Neurofibromatose Typ II wurden in den letzten Jahren im Rahmen von wissenschaftlichen Studien behandelt. Dabei wurde die Ausprägung der Erkrankung, ihr Verlauf und der Typ der Mutation genau untersucht. Solche Studien beschäftigen sich mithin mit der Phänotyp-Genotyp-Korrelation. Der Sinn solcher Untersuchungen besteht darin, die Frage zu beantworten, ob bestimmte Mutationstypen mit bestimmten Krankheitserscheinungen eng verbunden sind. Man möchte am liebsten schon bei einem noch klinisch unauffälligen Patienten mit großer Sicherheit den Krankheitsverlauf vorhersagen können, um die Therapie zu optimieren.
Bei diesen Studien hat man Folgendes festgestellt:
- Die meisten mutierten NF II-Gene führen zu verkürzten NF II Peptiden (Schwannominen).
- Es gibt keine Häufungstelle der Mutationen (Hot-Spots).
- Patienten mit einer Frameshiftmutation- oder Nonsense-Mutation haben einen schweren Verlauf.
- Patienten mit einer Missensemutation haben einen milden Verlauf.
- Bei Patienten mit einer Mutation in den Spleiß-Akzeptor-Sequenzen gibt es keinen bevorzugten Verlaufstyp.
- Kleinere Mutationen (Punktmutationen etc.) haben möglicherweise keine klinischen Auswirkungen.
- Es gibt Fälle, in denen Patienten mit der gleichen Mutation unterschiedliche Verlaufsformen zeigen.
Diese Befunde sprechen dafür, dass für die Ausprägung des Krankheitsbildes der NF Typ II noch andere Gene oder Umweltfaktoren verantwortlich sind.
Diagnose
Das Kern- oder Kardinalsymptom der Erkrankung sind die beidseitigen gutartigen Tumoren des Hörnervs (sog. bilaterale Akustikusneurinome). Durch dieses Symptom ist die Krankheit definiert.
Als diagostische Kriterien für eine Erkrankung bezeichnet man die Symptome, bei deren Vorliegen die klinische Diagnose gestellt werden darf.
Für die NF II sind dies:
- Der Nachweis von bilateralen Akustikusneurinomen mittels bildgebender Verfahren.
- Ein Verwandter ersten Grades mit einer NF II und der Nachweis von Neurofibromen, Meningeomen, Gliomen, Schwannomen.
- Ein Verwandter ersten Grades mit einer NF II und der Nachweis eines juvenilen posterioren subkapsulären Kataraktes (Linsentrübung im jugendlichen Alter).
Therapie
Für die Therapie ist die frühzeitige Erkennung der Erkrankung wichtig, da bei der NF Typ II schon Jugendliche erkranken. Häufig treten Symptome wie eine Hörminderung bis zu 10 Jahre vor der korrekten Diagnosestellung auf. Die Akustikusneurinome können frühzeitig operiert werden, um die Funktion des Gesichtsnervs zu erhalten. Allerdings führt dies nur bei der Hälfte der Patienten zu einem Erfolg. Patienten mit dem Wishart-Phänotyp erleiden zudem häufig Rezidive (Wiederauftreten des Tumors nach einer Operation). Bei einer Lähmung des Gesichtsnervs können rekonstruktive Eingriffe durchgeführt werden. Beim sogenannten Lidloading werden kleine Magnete in die Lider des betroffenen Auges implantiert, um eine chronische Bindehautentzündung durch einen unvollständigen Lidschluss bei einer Gesichtsnervenlähmung zu vermeiden. Die meisten Patienten mit einer NF II leiden im Rahmen der Erkrankung an einem Katarakt (Linsentrübung). Augenärztliche Operationen ersetzen die getrübte Linse durch eine künstliche Linse. Hierdurch wird die Verminderung des Sehvermögens verbessert. Bei Risikopatienten (Kinder von Betroffenen) empfiehlt man jährliche Kontrolluntersuchungen in spezialisierten Zentren. Zur Behandlung gehört auch das vorbeugende Erlernen der Gebärdensprache bei Patienten, die ein hohes Risiko für eine vollständige Ertaubung haben.
Operative Therapie des Akustikusneurinoms
Prinzipiell gilt, dass eine Operation bessere Ergebnisse ergibt, als die Bestrahlungstherapie. Es gibt sechs verschiedene Operationstechniken für die Entfernung eines ACN. Drei davon kommen nur in Ausnahmefällen zur Anwendung. Das Operationsverfahren wird ausgewählt nach der Größe des Tumors und dem Hörvermögen des Patienten.
- Der suboccipitale Zugang (SO) wird von Neurochirurgen bevorzugt und erlaubt den Erhalt des Hörvermögens. Der Nachteil dieses Verfahrens ist die höhere postoperative Komplikationsrate.
- Der translabyrinthine Zugang (TL) wird eher von HNO-Ärzten bevorzugt. Das Hörvermögen der betroffenen Seite wird dabei zerstört. Dies wird in Kauf genommen, wenn das Resthörvermögen des Patienten vor der Operation schon sehr schlecht ist. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht in der Schonung des Gesichtsnerves. Nachteilig ist die erhöhte Rate an Liquorfisteln.
- Der subtemporale Zugang oder Weg durch die mittlere Schädelgrube (MF) wird nur bei kleinen Tumoren gewählt. Die Chance, das Hörvermögen zu schonen, ist gut.
Tumoren, die größer sind als 4 cm Durchmesser, werden bevorzugt suboccipital operiert. Mittelgroße Tumoren (2-4 cm) können alternativ suboccipital oder translabyrinthin operiert werden. Hier entscheidet das Ausmaß des Hörvermögens und der Allgemeinzustand des Patienten (bei schlechtem Hörvermögen: TL; bei gutem Allgemeinzustand: SO). Kleine Tumoren (kleiner als 2 cm Durchmesser) bei Patienten mit schlechtem Hörvermögen werden mittels TL operiert. Kleine Tumoren bei Patienten mit gutem Hörvermögen und einem lateral (von der Schädelmittellinie weg) liegendem Tumor werden mittels MF operiert. Liegt der Tumor mehr medial (zur Schädelmittellinie hin), wählt man den SO Zugang.
|